Häftling Tobias: "Wenn ich in der Bibel lese, bin ich mit dem Kopf aus der Anstalt"

Pressemitteilung Hameln, 26. November 2024
Roman Vielhauer (r.) übergibt dem Gefangenen Tobias eine Sehnsuchtslektüre in der Jugendanstalt - die Bibel. Foto: Harald Langguth

Tobias ist 23 (Name und Alter geändert). Sein Zuhause ist die Jugendanstalt in Tündern. Und das schon eine ganze Weile. Wenn alles gut läuft, kommt er Weihnachten raus. Wegen guter Führung. In der Lehrwerkstatt macht er gerade eine Ausbildung. Eine von vielen Ausbildungen, die in der Jugendanstalt möglich sind. Tischler, Schlosser, Maurer, Friseur, Kfz-Mechatroniker oder Koch: Im Knast kann man vieles werden. Die Berufsschullehrer kommen von der Eugen-Reintjes-Schule. Für die Anschlussbeschäftigung draußen helfen die Sozialarbeiterinnen weiter. Sie vermitteln auch eine Unterkunft nach der Haft. Damit das Leben weitergehen kann – und sich die Chance auf Resozialisierung erhöht. Nur knapp ein Drittel sieht die Welt hinter Gittern nie wieder. Zwei Drittel werden rückfällig. 66 Prozent, eine hohe Zahl. Der Witz: Immer weniger sitzen ein. Nur noch 355 in Hameln. Platz wäre für 580 Männer zwischen 14 und 24 Jahren. „Demografischer Wandel – das macht sich auch im Knast bemerkbar“, erläutert David Lamers. Er ist Pressesprecher der Jugendanstalt Hameln. Die Knäste für Erwachsene sind dagegen in Niedersachsen randvoll. Bei 40 Prozent liegt der Ausländeranteil in der Jugendanstalt. Als Ausländer kann man auch Sprachkurse machen. Integrationskurse für die Haupt- oder Realschule sind ebenfalls im Angebot. Berufswege-Planung, sagt der Pressesprecher dazu. „Um die Rückfälligkeit der Häftlinge zu senken.“

 

Viele können nicht nach Hause telefonieren

Tisch, Schrank, Bett, Stuhl. Eine Nasszelle. Ein Fernseher für das Recht auf Information. Alles auf neun Quadratmetern. So sieht eine Haftraumzelle aus. „Handyverbot. Kein Internet. Das hier ist eine isolierte Welt. Luxus, wenn Familie und Freunde hinter einem stehen. Ich habe das. Viele können nicht nach Hause telefonieren“, berichtet Tobias. Geschichten aus der Bibel regen ihn zum Nachdenken an. Sie helfen ihm bei den kleinen Fluchten aus dem Alltag. „Jeden Tag lese ich jetzt nicht in der Bibel. Aber wenn ich in ihr lese, bin ich mit dem Kopf aus der Anstalt.“ Bibeln sind gefragt, weiß Stefan Warnecke. Der Mann ist evangelisch-lutherischer Pastor in der Jugendanstalt. Ein Ansprechpartner für die Gefangenen. Er ist nicht allein. Ein katholischer Pfarrer ist auch noch da. Und zwei Imame für die muslimischen Gefangenen. Sie teilen sich eine Stelle. „Kirche – das ist ein Safer Space. Keine Gewalt. Hier passiert nichts“, sagt David Lamers. Die Gefangenen sind froh, diese Ansprechpartner zu haben. Ein Stück Normalität hinter Gittern.

 

Heute kommt 40 mal das gedruckte Wort Gottes

Roman Vielhauer ist heute da. Der Geschäftsführer der Hannoverschen Bibelgesellschaft hat etwas mitgebracht: 40 mal das gedruckte Wort Gottes. 10 albanische, 10 rumänische und 20 Bibeln auf Deutsch. Fünf Bibelgesellschaften gehören zum Gebiet der Hannoverschen Landeskirche: Göttingen, Hannover, Osnabrück, Ostfriesland und Stade. Bundesweit gibt es rund 40 Bibelgesellschaften. Sitz der Deutschen Bibelgesellschaft ist Stuttgart. Vielhauer ist oft unterwegs, besucht Kitas und Knäste, um die Heilige Schrift zu verteilen. Finanziert wird das über Spenden und Kollekten in den evangelisch-lutherischen Gottesdiensten. Tobias liebt die BasisBibel Auslese. „An der Seite stehen Erklärungen. Hilfreich und interessant. Diese Bibel ist für mich verständlich.“ Die Auswahlbibel ist schmal. In ihr stehen 40 ausgewählte Texte aus dem Alten und Neuen Testament. Religion hat Konjunktur im Knast. „Ein Gefangener erzählte mir: Das ist das erste Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen haben“, erinnert sich der Gefängnispastor. Albanisch, rumänisch: Gerade bei Gefangenen mit diesen Nationalitäten ist die Nachfrage groß. „Etwas Magisches. Ich habe die Bibel im Haftraum. Mir kann nichts passieren“, gibt Warnecke eine Erklärung für das Streben nach dem Besitz der begehrten Schrift. Alle wissen: Das gehört einem Gefangenen. Dann kann man es ihm nicht wegnehmen.


Ein Glaubenskurs zu Schuld und Vergebung kommt gut an

Weil Religion so gut ankommt, hat Stefan Warnecke einen Glaubenskurs entworfen. „Da geht es um Einsamkeit, Scham, Liebe, Schuld und Vergebung. Für den Glaubenskurs habe ich geworben, bin wie der Rattenfänger hier von Haus zu Haus gegangen“, erinnert sich der Pastor. Seine Ausbeute - zwölf Interessenten. Die Folge: acht Taufen und drei Konfirmationen. „Wir haben Ostern einen tollen Gottesdienst mit Klavierspiel im Altarraum gefeiert“, sagt Warnecke. Im Außengelände steht sogar ein kleiner Kirchturm. Nur die Glocken wollen nicht mehr so recht läuten. Den Nachfolge-Glaubenskurs macht Warneckes katholischer Kollege. „Wir nehmen Druck aus dem Kessel für die Gefangenen. Zum Beispiel, wenn sie zu einer Beerdigung keinen Ausgang erhalten. Für viele ist das existenziell und dramatisch. Ich biete dann zum Zeitpunkt der Beerdigung ein Ritual vorm Altar an. Wir singen und beten zusammen.“  Wer dagegen auf eine Beerdigung gehen darf, bekommt Fußfesseln und zwei Beamte zur Seite gestellt. Richtig hart findet das Warnecke. Bei einem Vergebungsritual erhält der Gefangene von ihm einen schwarzen Stein, auf den er seine Schuld abladen kann. „Den werfen wir dann später in den Teich im Hof. Vielen hilft das“, berichtet der Geistliche aus seiner Berufserfahrung. Dieses Ritual bietet er jedem Gefangenen an.


Wer seine Freundin nicht erreicht, bekommt schnell Ohnmachtsgedanken

Mit dem Kontakt nach draußen ist das so eine Sache. Bei Telefonaten aus der Anstalt müssen die Nummern freigegeben werden. „Und wenn Du dann deine Freundin nicht erreichst, entstehen schnell Ohnmachtsgedanken. Bleibt sie mir treu?“ erinnert sich Tobias an die Sorgen eines Mitgefangenen. Sich sehen ist auch nur sporadisch möglich. Gerade mal sechs Stunden Besuchszeit im Monat stehen jedem Häftling zu. Ob Tobias Weihnachten wirklich rauskommt? Vollzug ist unberechenbar. Die Antwort weiß nur der Himmel. Harald Langguth